Seit dem im Dezember 2010 begonnen „Arabischen Frühling“ wurde die gesamte arabische Welt massiven Umstrukturierungen unterworfen. Massendemonstrationen und die Stärkung oppositioneller Kräfte begleiteten den Machtwechsel in vielen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens: Tunesiens Präsident Ben Ali, dessen Vermögen in der EU eingefroren wurde und dem mehrere Gerichtsverfahren anhängen, floh nach Saudi-Arabien; Ägyptens ehemaliger Präsident Mubarak – inzwischen schwer erkrankt – muss sich ebenfalls vor Gericht verantworten; Libyens Staatschef Gaddafi wurde von Aufständischen erschossen. Hier handelt es sich um Länder, mit denen die EU enge politische und wirtschaftliche Verbindungen unterhielt. Anders stellt sich die Situation im Falle Syriens dar: trotz seiner relativen internationalen und regionalen Isolation kommt Syrien eine Schlüsselrolle im Nahen Osten zu. Die Assad-Regierung agiert mit Rückendeckung seitens des Irans und unterstützt (von der westlichen Staatengemeinschaft als terroristisch eingestufte) Gruppierungen, wie die libanesische Hisbollah oder den militanten Arm der palästinensischen Hamas. Gleichzeitig sieht es sich einer Reihe von Ländern gegenüber, deren Verbindung zu Syrien als problematisch bezeichnet werden kann. Die gesamte Arabische Halbinsel, nebst Jordanien, Ägypten und Irak beobachten Assad misstrauisch – von Israel ganz zu schweigen.
Als im Februar 2005 der libanesische Präsident Hariri einem Attentat zum Opfer fiel, setzte der UN-Sicherheitsrat eine Kommission ein, die die Hintergründe und die vermutete Beteiligung des syrischen Geheimdienstes aufklären sollte. Als Reaktion zog Assad alle Regierungstruppen aus dem Libanon ab. Aus den folgenden Parlamentswahlen resultierte in Beirut eine prowestliche Regierung, die Damaskus ein Dorn im Auge war. Der libanesische Bürgerkrieg, der in Folge des Libanonkriegs 2006 entstand, konnte 2008 im Rahmen des Abkommens von Doha beigelegt werden. Alle Parteien einigten sich auf den ehemaligen General Suleiman, als Staatspräsidenten. Auch die Hisbollah und andere antiwestliche Parteien wurden als Opposition in die Regierung eingebunden. Dadurch, dass Syrien nun diplomatische Beziehungen zum Libanon aufnahm und den Staat somit anerkannte, ergab sich ein erster Schritt aus der internationalen Isolation. Ebenfalls 2008 erfolgte die Einladung des französischen Staatspräsidenten Sarkozy zu den Verhandlungen über die Mittelmeerunion. Selbige ging im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik in der Union für das Mittelmeer auf, zu der Syrien neben anderen Mittelmeeranrainerstaaten gehört.
Mit den beginnenden Protesten gegen die Führung Assads im Februar 2011 hat sich die Situation allerdings wieder komplett geändert. Gegen Demonstranten und Oppositionelle, die einen Machtwechsel und politische Reformen forderten, ging die Regierung vehement und gewaltsam vor. In der medialen Berichterstattung dominierten die Meldungen über die massive Gewaltanwendung gegenüber friedlichen Demonstranten. Die Vereinten Nationen sprachen im März 2012 von über 5600 getöteten Zivilisten. Auch die Beziehungen zur benachbarten Türkei haben sich durch die Unruhen verschlechtert: Ankara verhängte Sanktionen und fror Konten syrischer Regierungsmitglieder ein. Stellt sich die Frage, warum die internationale Staatengemeinschaft nicht eingreift. Fälle, wie in Srebrenica oder Ruanda habe oft genug gezeigt, wie wichtig eine internationale Intervention ist, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Im Unterschied zu Libyen beschränkte sich die westliche Staatengemeinschaft jedoch auf Sanktionen und sah bisher von einem militärischen Eingreifen ab. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: auch wenn das Staatsgebiet Syriens um ein Vielfaches kleiner ist, so ist die Bevölkerung mehr als dreimal so groß als die Libyens. Eine Intervention würde eine massive destabilisierende Wirkung auf die gesamte Region haben. Auch Israel wäre so mehr als sonst durch Vergeltungsschläge seitens Hamas und Hisbollah gefährdet. Und der große Nachbar Iran im Osten, der unter dem dringenden Verdacht steht eine nukleare Bewaffnung aufzubauen, würde einen militärischen Einsatz ausländischer Streitkräfte auf dem Staatsgebiet seines Verbündeten nicht hinnehmen.
Eine friedliche Lösung des Konflikts scheint jedoch unmöglich. Als Assad im Februar 2012 über eine neue Verfassung abstimmen ließ, wurde dies von der Opposition boykottiert. Hauptargument war, dass so keine grundlegenden Veränderungen herbeigeführt würden. Unabhängig davon, ob die geplante neue Verfassung tatsächlich ein Schritt zu mehr Demokratie wäre oder sich als Farce entpuppt, die beiden Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber, eine Einigung scheint unrealistisch.
Gleichzeitig stellt sich die Frage mit wem sich die syrischen Regierungstruppen so erbitterte Gefechte liefern, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung ausschließlich von getöteten Zivilisten die Rede ist. Eine Antwort liefert der Orientexperte und Professor der Universität Mainz Dr. Günter Meyer. In einem Interview mit dem Radiosender Bayern2 äußert er, dass es den westlichen Staaten in erster Linie um die Zerschlagung der Achse Teheran-Damaskus-Hisbollah ginge. Hintergrund sei hier, dass die militärische Unterstützung der Hisbollah unterbunden werden solle, um u.a. eine Gefährdung Israels zu minimieren. Zudem seien aus Libyen mehrere Hundert Mudschaheddin eingeflogen worden, die mit Waffen aus den ehemaligen Arsenalen Gaddafis ausgerüstet, zur Destabilisierung des Landes beitragen sollen und für einen Großteil der Toten verantwortlich seien. Doch nicht nur die EU und die USA verfolgten ihre Interessen, sondern auch arabische Staaten wie Katar oder Saudi-Arabien würden versuchen ihren Einfluss auszuweiten. Trotz dessen käme die in Kata ansässige Qatar Foundation in einer Studie zu dem Schluss, dass 50% der Bevölkerung Syriens hinter der Regierung stünde. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Veto Russlands und Chinas gegen die geplanten UN-Resolutionen zu Syrien ganz anders dar. Während diese beiden Staaten in ihrer Außenpolitik traditionell eher die Maxime staatlicher Souveränität sowie das Gebot der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten vertreten, hat für die USA und die EU die Schutzverantwortung für Zivilisten und hilfsbedürftige Personen Vorrang. Beide Positionen laufen Gefahr für eigene nationalstaatliche Interessen missbraucht zu werden. In Libyen siegten die Oppositionskräfte, sprich die Aufständischen, vor allem aufgrund der Luftunterstützung der NATO sowie der Bewaffnung durch westliche Staaten. Ein ähnliches Vorgehen wäre in Syrien fatal – der Syrische Nationalrat (SNC), der als repräsentativer Ansprechpartner für die Oppositionsbewegung angesehen wird, warnt vor unkontrollierten Waffenlieferungen. Ein Bürgerkrieg ungeahnten Ausmaßes wäre die Folge – daran kann weder der Regierung Assad oder der Opposition noch der EU oder den Vetomächten des UN-Sicherheitsrates gelegen sein. Durch die Unterstützung der Rebellen kann zwar eine Staatsführung ohne offizielle Intervention von Außen gestürzt werden, allerdings sollten sich die Initiatoren vor Augen halten, dass der auf die Kämpfe folgende Prozess des state building in dieser Region eine weitaus größere Herausforderung darstellt. Um weitere Opfer auf Seiten der Zivilbevölkerung, der Regierungstruppen und der aufständischen Oppositionsgruppen zu vermeiden, wäre eine Rückkehr an den Verhandlungstisch bzw. die Aufnahme von Gesprächen vonnöten. An einem Kompromiss ist allerdings keiner der Beteiligten interessiert.
März 2012 Von Felix Weiß