Dieser Beitrag erschien so ähnlich am 20. August 2015 in der Printausgabe (Nr. 34/15) des derFreitag und auch online.
Verlässt man den Flughafen in Tiflis fällt als erstes der Schriftzug ins Auge, der auf den Schiebetüren prangt: „Welcome to Georgia – EU associated state“. Die Kaukasusrepublik mit ihren 3,7 Millionen Einwohner ist stolz, dass sie 2014 das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnete. Ein EU-Beitritt steht aus Brüsseler Sicht jedoch nicht zur Debatte.
Das Taxi, das in die Innenstadt fährt, hat eine gesprungene Windschutzscheibe und unterscheidet sich damit nicht von den anderen Taxen, die hupend und unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln den Stadtverkehr durchpflügen.
Trotz lauter Musik und gewagten Überholmanövern, schafft es der Fahrer sich beim Anblick jeder Kirche zu bekreuzigen. Georgische, sowjetische und moderne Architektur fließen vor dem Autofenster ineinander.
Viele Orte, wie der Freedom Square, der von einer hoch aufragenden Figur des heiligen Georgs – dem Schutzpatron des Landes – dominiert wird oder die Liberty Bridge, die hunderte farbige LEDs nachts zum Leuchten bringen, betonen die georgische Unabhängigkeit.
„Wir warten so lange wie nötig“
Auf der Dachterrasse eines 12-Geschossers steht Nini Popkhadze und genießt den atemberaubenden Blick über Tiflis. Im Umkreis befinden sich Wohngebiete und die Bauruine eines Hochhauses – ein Relikt des Baubooms der Saakaschwili-Ära. Popkhadze arbeitet für die Jugendorganisation DRONI, die hier im obersten Stockwerk ihr Büro hat. 2003 gegründet, realisiert die NGO umwelt- und gesellschaftspolitische Projekte mit jungen Menschen und spricht sich für eine EU-Integration Georgiens aus. „Wir möchten Teil der EU sein. Auch wenn wir noch nicht bereit sind, weiß ich genau, dass es eines Tages soweit sein wird. Wir warten so lange wie es nötig ist“, sagt die zierliche Popkhadze mit strahlenden Augen. Die Organisation schickt ihre Mitglieder im Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes in die EU und empfängt auch Freiwillige aus europäischen Staaten. Das lebhafte Treiben und die Arbeit wird von Englisch als Umgangssprache dominiert.
Heute ist der Politikwissenschaftler Dr. Ghia Nodia zu Gast, der mit DRONI-Mitgliedern über die Beziehungen zur EU diskutieren möchte. Über die politische Situation im Land sagt der Politikwissenschaftler: „Ein Problem ist, dass wir eine hohe Machtkonzentration in der Hand einer Person oder einer Gruppe haben. Andererseits verfügen wir aber auch über vielfältige und kritische Medien sowie eine politische Opposition. Eine Lektion, die wir aber noch lernen müssen ist, egal wie sehr wir einen politischen Gegner hassen, es gibt keinen Grund ihn ins Gefängnis zu stecken.“ Rechtsstaatliche Reformen sind nur ein Teil der Agenda, die das Assoziierungsabkommen beinhaltet. Mit der Implementierung ist eine Behörde mit dem sperrigen Namen Büro des Staatsministers Georgiens für Europäische und Euro-Atlantische Integration betraut.
Unterschiedliche Wahrnehmungen der Zusammenarbeit
In der 5. Etage des sandsteinfarbenen Regierungsgebäude empfängt Nino Grdzelishvili. Sie arbeitet im Ministerium für Europäische und Euro-Atlantische Integration und hat auf ihrem Schreibtisch eine 5 cm dicke Abschrift des Abkommens liegen. Die Implementierung bezeichnet sie als „komplizierten und ehrgeizigen Prozess“. Schließlich geht es um tiefgreifende wirtschaftliche, soziale und legislative Reformen. Trotzdem ist sie optimistisch. „Wir sind ambitioniert eine Erfolgsgeschichte zu sein. Die Europäische Integration ist ein Prozess und Georgien ist auf dem Weg“, so Grdzelishvili.

Ministeriumsmitarbeiterin Nino Grdzelishvili bezeichnet die EU-Annäherung als „komplizierten und ehrgeizigen Prozess“.
Wohin dieser Weg führen soll, darüber scheint man in Brüssel und Tiflis uneinig zu sein. Die Östliche Partnerschaft, der Georgien mit Armenien, Aserbaidschan, der Republik Moldau, der Ukraine und Weißrussland angehört, offeriert den Staaten keine Beitrittsperspektive. Schaut man sich jedoch im Stadtbild Tiflis‘ um, könnte man meinen, man befände sich bereits in einem EU-Mitgliedsstaat. Vor jedem öffentlichen Gebäude flattert die EU-Flagge im warmen Maiwind. Als ob die fehlende Beitrittsperspektive damit ausgeglichen werden könnte, wird der Prozesscharakter der EU-Integration wie ein Mantra von Regierungsstellen und Vertretern der Zivilgesellschaft wiederholt. Das Kollidieren der unterschiedlichen Wahrnehmungen wird auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
„Mangel an objektiver Information“
Kann in diesem Zusammenhang von einer Desinformation der georgischen Gesellschaft gesprochen werden? „Die Medien sprechen nicht über die Herausforderungen der Europäischen Integration und der Implementierung des Assoziierungsabkommens. Wir sehen uns mit einem Mangel an objektiver Information konfrontiert“, gibt Grdzelishvili zu. Selten angesprochen werden beispielsweise die Konsequenzen des Freihandelsabkommens, das im Rahmen des Assoziierungsabkommens unterzeichnet wurde. Selbst wenn alle regulatorischen Vorschriften erfüllt sein sollten, gäbe es nicht viel, was die Kaukasusrepublik exportieren könnte. Der berühmte georgische Wein würde in der EU auf einen gesättigten Markt treffen. Im Gegenzug würde es vor allem Vorteile für die EU-Staaten bedeuten, wenn Importzölle wegfielen.

Die georgische und die EU-Flagge Seite an Seite – bisher verbindet den Kaukasusstaat ein Assoziierungsabkommen mit dem europäischen Staatenbund.
Als Argument für einen EU-Beitritt wird die europäische Vergangenheit des Landes angeführt. Es geht um die zweitälteste christliche Gemeinschaft und archäologische Funde, die als Zugehörigkeit zum europäischen Kulturraum interpretiert werden. „Die europäische Integration ist nichts Neues. Wir kehren nur zurück in die europäische Familie, wo Georgien hingehört“, so Grdzelishvili. Kritiker dieser Sichtweise argumentieren, dass zur identitätsstiftenden Geschichte Europas auch die Reformation und die Aufklärung gehören – Ereignisse, an denen Georgien keinen Anteil hatte.
30.000 georgische Binnenflüchtlinge
Die bedingungslose Westorientierung manifestiert sich nicht nur in der EU-Beflaggung und Straßennamen wie George W. Bush-Avenue. Sie erklärt sich, neben der Vergangenheit als Sowjetrepublik, auch mit dem russisch-georgischen Krieg 2008. Noch dringender als zuvor besteht seitdem das Bedürfnis in eine westliche Sicherheitsstruktur eingebunden zu sein. Kein Wunder also, dass Russland nach wie vor und seit den Kämpfen in der Ukraine mehr denn je als Gefahr wahrgenommen wird. „Wir können Russland nicht ignorieren. Georgien leidet immer noch unter der russischen Aggression“, so ein Sprecher des Außenministeriums. Wenn er sagt, dass Georgien immer noch leidet, dann spielt er unter anderem auf die Binnenflüchtlinge an. Während des Krieges flüchteten Tausende aus dem Norden des Landes. Als sogenannte internal displaced persons (IDPs) leben heute ca. 30.000 Georgier in verschiedenen Lagern.
Verlässt man Tiflis in nördlicher Richtung, offenbart sich die Schönheit der georgischen Landschaft: längs der Straße fließt ein malerischer Fluss, an dessen Seite sich grüne Berge erheben. Nach einer halben Autostunde ist Tserovani erreicht. Mit seinen 8000 Einwohnern ist es das größte Flüchtlingslager auf georgischem Boden. Wo früher eine grüne Ebene war, wurden mit EU-Geldern innerhalb von drei Monaten 2000 Häuser aus dem Boden gestampft. Aus der Ferne betrachtet könnte es auch eine Ferienanlage sein. Im Sommer muss es in dieser baumlosen Ebene unglaublich heiß sein.

Von den 30.000 georgischen Binnenflüchtlingen leben ca. 8000 in Tserovani. Damit ist es das größte Flüchtlingslager des Landes.
Leben unter der Armutsgrenze
Nana Chkareuli arbeitet für die NGO Better Future in dem Café des Lagers. „Das größte Problem in Tserovani ist die Arbeitslosigkeit. Manche haben Arbeit in nahegelegenen Fabriken gefunden. Einige Frauen stellen Schmuck her und verkaufen ihn in einem Laden auf dem Gelände“, erzählt Chkareuli. Weniger kunstfertige Einwohner leben von selbst angebautem Obst und Gemüse und von dem, was der georgische Staat ihnen zukommen lässt. Pauschal bekommt jeder IDP 44 Lari monatlich zugesprochen. Das entspricht knapp 20 Euro. Wer unter der Armutsgrenzer lebt, erhält zusätzlich 45 Lari. Der Flüchtlingsstatus stigmatisiert aber auch. „Viele junge Menschen verschweigen ihren Flüchtlingsstatus, wenn sie einen Studienplatz oder eine Arbeit finden“, so Chkareuli. Aus den Lagern auszuziehen ist problemlos möglich. Den Status zu verlieren, hieße jedoch auf die staatliche Unterstützung zu verzichten.
EUMM: Beobachten und Informieren
Schwerer als die Armut wiegt für viele der Verlust der Heimat. Im Rahmen der EU Monitoring Mission (EUMM) ist die EU vor Ort und beobachtet die Grenzregionen zu Abchasien und Südossetien. Sitz der Mission ist eine alte Stadtvilla in einem Park der Hauptstadt, wo sich früher die sowjetische Nomenklatura traf. Seit 2008 arbeiten ca. 300 internationale und nationale Mitarbeiter für EUMM. Die Hauptaufgaben sind die Stabilisierung in der Region zu beobachten, Vertrauen aufzubauen und Brüssel über die Entwicklungen zu informieren.
„Wir führen 15-20 Patrouillenfahrten pro Tag in der Grenzregion durch. Das Territorium der abtrünnigen Provinzen dürfen die EU-Mitarbeiter jedoch nicht betreten“, erzählt EUMM-Mitarbeiter John Durnim. Ein Problem ist die so genannte borderisation – der Versuch der russischen, südossetischen und abchasischen Behörden durch Gräben und Zäune die so genannte administrative borderline (ABL) als Staatsgrenze zu etablieren – nicht nur physisch, sondern auch in den Köpfen. „Die Zäune markieren nicht den exakten Verlauf der ABL, sondern signalisieren eher: Zurückbleiben!,“ so Durnim.
Trotzdem kommt es immer wieder zu Zwischenfällen. Eigenmächtige Grenzüberquerungen der lokalen Bevölkerung, für Familienfeiern, Arztbesuche oder zum Holz sammeln, abseits der offiziellen Übergänge enden häufig in Inhaftierungen. 2014 wurden 153 Verhaftungen in Südossetien und 394 in Abchasien registriert. In solchen Fällen kann EUMM versuchen vermittelnd einzugreifen. Die Mission betreibt eine Hotline, die rund um die Uhr erreichbar ist. Die Incident Prevention and Response Meetings (IPRM) sollen dazu dienen strittige Fragen zu klären. „Die IPRM mit Abchasien haben seit April 2012 allerdings nicht mehr stattgefunden,“ so Durnim.
EU-Enthusiasmus kann kippen
Dieser eingefrorene Konflikt erinnert an de-facto-Staaten in anderen postsowjetischen Staaten, wie Transnistrien oder Bergkarabach. Auch der Ausgang der Ereignisse in der Ostukraine ist ungewiss. Medienberichten zufolge sind südossetische Kämpfer aufseiten der Separatisten und Georgier aufseiten des ukrainischen Militärs in die Kämpfe involviert. Der ehemalige Präsident Micheil Saakaschwili übt seit dem 30. Mai 2014 das Amt des Gouverneurs der Oblast Odessa aus. In seiner Heimat wird er wegen Amtsmissbrauchs per Haftbefehl gesucht.
Vor diesem geopolitischen Hintergrund erscheint es verständlich, dass Brüssel nicht von einer Beitrittsperspektive für Georgien spricht. Derzeit sprechen sich zwei Drittel der Bevölkerung für die EU und ein Drittel für die Eurasische Union aus. Auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga im Mai 2014 konnten dem Staat keine greifbaren Angebote gemacht werden. Darüber, dass große Teile der Bevölkerung ihren EU-Enthusiasmus zugunsten einer Zuwendung zur Eurasischen Union ablegen könnten, möchte niemand sprechen – dass diese Sorge im Raum steht, ist unbezweifelbar. Wenn es keinen substanziellen Fortschritt gibt, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich die Zustimmungswerte verschieben. In Georgien kann sich niemand mit dem Gedanken anfreunden lediglich als Pufferzone in der EU-Peripherie zu dienen.
Felix Weiß