„Russland hätte problemlos auch Donezk und Lugansk einnehmen können“

Dieses Interview erschien am 11. Juli 2014 in gekürzter Form auf EurActiv.de.

Große Armut, eine politisch und kulturell zerrissene Bevölkerung und eine Armee in katastrophalem Zustand: Die Ukraine kämpft nicht erst seit der Annexion der Krim durch Russland mit chronischer Instabilität. Auch wenn der Konflikt mit Moskau in einigen Monaten beruhigt sein sollte – wirtschaftlich und politisch steht dem Land ein enorm steiniger Weg bevor, prophezeit Russlandexperte Steve Eke.

Steven Eke ist Russland-Experte und arbeitet aktuell als Risikomanager für Russland und den westlichen Teil der früheren Sowjetunion bei der Unternehmensberatung Control Risks.

Ein ukrainischer Freund hat mir einen zeitgenössischen Witz erzählt:
In der nahen Zukunft treffen sich zwei Ukrainer – die Ukraine ist inzwischen EU-Mitglied – und fragen einander wie es ihnen geht. Der erste sagt: „Schlecht. Meine Frau arbeitet als Reinigungskraft in Italien, meine Tochter als Prostituierte in Frankreich und mein Sohn hat in Deutschland einen Mann geheiratet. Haben wir wirklich von der EU profitiert?“ Sein Freund antwortet: „Das ist alles Russlands Schuld. Sie haben uns gedrängt nicht der EU beizutreten, weil sie wussten, dass wir genau das Gegenteil tun werden.“
Wie würden Sie diesen Witz kommentieren?

Ich würde sagen in der Ukraine gibt es einen tief verwurzelten Hang zum Fatalismus und außerdem das Gefühl, dass man sich in einer Zwickmühle befindet. Russland möchte weiterhin nicht, dass die Ukraine ihr politisches, wirtschaftliches, strategisches und militärisches Einflussgebiet verlässt. Gleichzeitig hat die EU einen falschen Eindruck vermittelt, was die Bereitschaft zur Integration der Ukraine betrifft. Meiner Meinung nach hätte gegenüber der ukrainischen Führung von Anfang an deutlich gemacht werden sollen, dass es in absehbarer Zukunft keine realistische Möglichkeit eines EU-Beitritts der Ukraine gibt. Schauen wir uns beispielsweise den mehr als 30 Jahre währenden Prozess an, in dem die Türkei eingebunden ist. Sie haben versucht enge Kontakte zu den EU-Institutionen zu entwickeln, was letztendlich in einen Beitritt münden sollte. Die Ukraine liegt, was die Aufnahmekriterien anbelangt, weit hinter der Türkei und hat somit absolut keine Chance. Und ich denke niemand hat vorausgesehen, dass Janukowitsch im November letzten Jahres seine Meinung über das Abkommen ändert, sich weigert nach Vilnius zur Unterzeichnung zu fahren und sich stattdessen aus wirtschaftlichen Gründen enger an Russland bindet. Niemand hat zudem die Krise erahnt, die daraus resultieren sollte. Wahrscheinlich hätte die EU die Ukraine nicht in eine Situation bringen sollen, in der sie sich zwischen der EU und Russland entscheiden muss, denn das Schicksal der Ukraine ist, dass sie schon immer zu beiden Seiten Beziehungen aufrechterhalten muss.

Sie sagten, dass es keine realistische Perspektive für die Ukraine gibt EU-Mitglied zu werden. Die EU versucht die Beziehungen zur Ukraine mittels des Assoziierungsabkommens und anderer bilateraler Abkommen zu stärken, aber Janukowitsch, der sich zwischen der EU und Russland entscheiden musste, hat die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens letztendlich abgelehnt. War dieser Regimewechsel nach dieser Verweigerung unausweichlich?

Zuerst einmal möchte ich festhalten, dass es absolut im Interesse der EU ist, dass die Ukraine eine friedvolle, prosperierende, freie und normale Gesellschaft ist. Geografisch und mit 45 Millionen Einwohnern ist sie eines der größten Länder Europas. Es ist essentiell für Europas Sicherheit und die Zukunft der EU, dass die Ukraine ein normaler europäischer Nachbar ist. Das ist sie im Moment nicht, vielmehr befindet sie sich in einer sehr schwierigen Situation. Bis zu dem Regimewechsel in der Ukraine hat niemand vorausgesehen, dass sich die Ereignisse auf so eine brutale Art überschlagen würden. Oder dass Janukowitsch anfangen würde seine eigenen Leute durch Polizeischarfschützen zu töten, als seine Position gefährdet war. Das geschah, als ich in Kiew war. Dass so eine entsetzliche Gewalt in einem europäischen Land im Jahr 2014 möglich ist, konnte sich niemand vorstellen. Nichtsdestoweniger zeigt das aber auch, dass die Ukraine sehr schlecht funktionierende Institutionen hat, dass sie während 23 Jahren Unabhängigkeit keine grundlegenden Strukturen aufgebaut hat, die sie bräuchte, um sich zu einem normalen, wohlhabenden, demokratischen und freien Land zu entwickeln. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Ukraine nach Moldawien das zweitärmste Land Europas ist. Das ist die wirtschaftliche Seite. Die politische Seite besteht aus chronischer Instabilität und Unruhe. Das ist keine Erfolgsgeschichte – weder aus Sicht der Ukraine noch aus Sicht der EU. Ich denke wir sollten ehrlich zugeben, dass an der Ukraine von zwei Seiten gezogen wird. Und ein Land, das viele Kriterien erfüllt, um als gescheiterter Staat klassifiziert zu werden, hätte nicht in eine Situation gebracht werden sollen, in der es so fundamentale Entscheidungen treffen muss.

Was wären die Auswirkungen des Assoziierungsabkommens gewesen? Es muss doch Gründe für Janukowitsch und andere gegeben haben, dieses Abkommen abzulehnen.

Die längerfristigen Auswirkungen wären ein besserer Zugang zu den europäischen Märkten gewesen, ein größerer Anteil der ukrainischen Gesamtexporte in die EU und eine engere institutionelle Bindung der Ukraine für eine künftige EU-Integration. Für Janukowitsch gab es mehrere Negativpunkte. Zuallererst bedeutende Forderungen nach Reformen des Rechtssystems und des Gerichtswesen. Rückblickend haben wir gesehen, dass das etwas ist, was er nicht hätte realisieren können, da er völlig korrupt war. Er, seine Familie und Minister haben den Staat schamlos bestohlen. Letztlich haben ihn die Menschen aus diesem Grund aus seinem Amt und dem Land vertrieben. Andererseits hätte sich Russland im Falle einer Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens wirtschaftlich gerächt. Das hätte einen enormen Anstieg der Gaspreise, Handelskriege und eine mögliche Schließung des russischen Marktes für einige ukrainische Hauptexportgüter zur Folge gehabt sowie eine daraus resultierende massive Wirtschaftskrise zu einem Zeitpunkt, zu dem die Ukraine bereits in großen finanziellen Schwierigkeiten war. Die EU hat nicht vorausgesehen, dass Russland so reagieren und das finanziell und wirtschaftlich vergelten würde. Und ganz offensichtlich hatten weder die Russen, noch die Ukrainer oder die EU fertige Lösungen parat, als die Dinge außer Kontrolle gerieten.

Mit dem neu gewählten Präsidenten Petro Poroschenko kam wieder ein Oligarch an die Macht. Die Ukrainer haben seit Beginn der 1990er viele Erfahrungen mit Oligarchen machen können. In den letzten Jahrzehnten hat Poroschenko verschiedenen Machthabern in der Ukraine gedient. Er arbeitete mit Timoschenko, Juschtschenko und Janukowitsch zusammen. Wie kann dieses Wahlergebnis erklärt werden?

Meiner Meinung nach gab es eine bescheidene Auswahl: Poroschenko, Timoschenko, der ehemalige Boxer Vitali Klitschko. Herr Klitschko wurde nach der Wahl Bürgermeister Kiews. Julia Timoschenko war zu sehr mit der Korruption und den gescheiterten Regierungen der Vergangenheit verbunden. Und trotz ihrer Entlassung aus dem Gefängnis und der Rückkehr in das politische Leben, ist sie nicht dieselbe Person, die sie Ende 2004 zum Zeitpunkt der Orangenen Revolution war. Ich glaube, die Ukrainer haben sich wahrscheinlich dieses Mal für jemanden entschieden, der als vernünftig angesehen wird. Sie haben realisiert, dass Poroschenko die Beziehungen zu Russland kitten muss. Was auch immer er hinsichtlich der EU unternehmen möchte, er muss die Beziehungen zu Russland reparieren. Aber vor allem anderen muss er die Kontrolle über die Ostukraine wiedergewinnen, um Kiews Fähigkeit für allgemeine Ordnung in dieser Region zu sorgen wiederherzustellen, denn momentan befinden sich 15% des ukrainischen Territoriums und 40% der ukrainischen Wirtschaft in einer bürgerkriegsähnlichen Situation.

Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach der westliche und der östliche Teil der Ukraine in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht?

Sie unterscheiden sich grundlegend. Die Ukraine besteht nicht nur aus zwei Ländern vereint in einem, vielmehr handelt es sich um mehrere Ländern in einem Land. Das ist das Ergebnis von historischen Grenzziehungen. Der Name Ukraine bedeutet das Rand- oder Grenzgebiet und das spiegelt historisch wider, wo das heutige Land seinen Ursprung hat. Gebildet wurde es im Prinzip aus Teilen früherer historischer Verwaltungseinheiten von großen Reichen und ist daher kulturell, ethnisch, sozial, religiös und linguistisch differenziert. Aber als Analyst konnte ich mich davon überzeugen, dass es eine sehr gefestigte Auffassung von bürgerlicher Identität gibt: dass ethnische Russen, die in der Ostukraine leben und Russen, die ukrainisch sprechen und im Osten oder Zentrum der Ukraine leben, sich zuallererst als Ukrainer sehen. Wir mussten nun feststellen, dass das teilweise falsch war. Es gibt Menschen in der Ukraine – in Bezug auf die Rebellen in Donezk und Lugansk möchte ich deren Anzahl nicht übertreiben, wahrscheinlich nicht mehr als 500-600 Leute – die sich nicht zum ukrainischen Staat gehörig fühlen und die nicht zu dem Staat, wie er in den jetzigen Grenzen existiert, gehören wollen. Besonders deutlich wurde das am Beispiel der Krim. Das Referendum, das dort zur Unabhängigkeit abgehalten wurde, war weder frei, noch fair oder demokratisch. Trotzdem hat es die Sicht des Großteils der Einwohner der Krim widergespiegelt, der nicht von der Ukraine regiert werden möchte. Die westlichen Teile der Ukraine, die früher zu Polen oder Österreich-Ungarn gehörten, haben natürlich eine ganz andere Weltsicht. Sie sehen sich selbst als Zentraleuropäer und identifizieren sich viel mehr mit den Polen, Slowaken, Ungarn und sogar mit den Rumänen auf der westlichen Seite der Grenze. Sie teilen nicht das Wertesystem einer an Russland orientierten Welt, wie es in der Ostukraine der Fall ist.

Das wirtschaftliche Zentrum ist doch auch eher im östlichen Teil angesiedelt.

Die Schwerindustrie, die metallverarbeitende und die chemische Industrie sind im Osten und Südosten der Ukraine angesiedelt. Es gibt also auch eine wichtige wirtschaftliche Komponente. Ein Verlust dieser Regionen würde der ukrainischen Wirtschaft, die sowieso in einem schlimmen Zustand ist und auf Zuschüsse angewiesen ist, ernsthaften Schaden zufügen. Der gesamte Staatshaushalt ist von ausländischer Hilfe abhängig. Das Land ist sehr arm geworden. Gleichwohl sollten wir nicht die zentralen Regionen der Ukraine – südlich von Kiew – oder die Bedeutung von Kiew selbst sowie die westliche und südwestliche Ukraine ignorieren, wo sich die Agrarindustrie konzentriert. Immerhin ist die Ukraine einer der weltweit größten Produzenten von Weizen und anderen Agrarprodukten. Dieses wirtschaftliche Potential ist für die Zukunft des Landes ebenso unerlässlich. Wir sprechen hier also nicht über ein Land, das Metall und Chemikalien exportiert, es ist auch ein Hauptexporteur von Nahrungsmitteln. Auch wenn im Osten der Bevölkerungs- und Industrieballungsraum ist, möchte ich seine Bedeutung für die ukrainische Gesamtwirtschaft nicht übergewichten.

Vielleicht ist das ja der Grund, warum die Reaktion Kiews im Vergleich zur Sezession der Krim viel heftiger ausfiel?

Ja, ich glaube schon. Es gibt hier aber einen fundamentalen Unterschied, der darin besteht, dass die Krim von russischen Spezialkräften infiltriert und friedlich aus der ukrainischen Jurisdiktion herausgelöst wurde. Ich bin zu 99% sicher, dass sie das im Osten der Ukraine auch hätten tun können, wenn sie es gewollt hätten. Es wäre kein Problem gewesen die Oblaste Donezk und Lugansk zu übernehmen. Warum das meiner Meinung nach nicht erfolgte, sind die internationalen Konsequenzen, die in Form von Sanktionen sehr ernst hätten werden können und eine Lähmung der russischen Wirtschaft, eingefrorene Konten und Auslandsgelder zur Folge gehabt hätten. Ich denke es gab die Möglichkeit einer russischen Invasion und die Übernahme der beiden Regionen durch Russland und deren Eingliederung in die Russischen Föderation. Meiner Meinung nach besteht diese Möglichkeit nun nicht mehr, obwohl die Russen sich weiterhin einmischen werden. Auf der Krim wurde deutlich, dass die ukrainische Armee in einem katastrophalen Zustand ist. Sie haben ihre Sachen gepackt und sind ohne zu Kämpfen abgezogen. Es gab überhaupt keinen Widerstand. Hier handelt es sich nicht um eine moderne Armee oder eine moderne Grenzschutztruppe. Das sagt viel aus über den Zustand der Ukraine. Und was wir im Osten der Ukraine beobachten konnten ist, dass – obwohl es nun ernsthafte Kämpfe zwischen der neu gegründeten Nationalgarde und pro-russischen Rebellen gibt – die normalen Polizeikräfte nicht loyal gegenüber Kiew sind und die Seiten gewechselt haben. Am 2. Mai stand die Polizei in Odessa – im Süden der Ukraine – da und hat passiv zugesehen, als sich diese entsetzliche Gewalt entlud und 50 Menschen verbrannten. Wenn wir nun fragen, warum es keinen physischen Widerstand gegen die Annexion der Krim gab und warum es möglich war, dass die östlichen Provinzen so instabil wurden, muss man feststellen, dass dieses Land weder eine leistungsfähige Armee, noch ein leistungsfähiges Strafverfolgungssystem, einschließlich der Polizei, hat.

Sie haben die letzten Wochen und Monate in der Ukraine verbracht und haben eben über die sicherheitspolitischen Konsequenzen, die Sie beobachten konnten, gesprochen. Was ist mit den wirtschaftlichen Konsequenzen des Konflikts?

Die sind wirklich ernst. Zunächst sollten wir schauen, was mit der Wirtschaft der Krim geschehen ist. Für den Westen gehört die Krim noch zur Ukraine. Die Krim hatte jährlich 5-6 Millionen Touristen, davon mindestens 4 Millionen aus der Ukraine. Jetzt ist niemand mehr da. Es ist komplett leer und damit bricht der Tourismus als Wirtschaftszweig der Krim zusammen. Es gibt auch ernste Probleme mit dem Bankensystem sowie der Versorgung der Krim mit Wasser, Nahrung und Elektrizität, weil das alles aus der Ukraine kommt. Es gibt Anzeichen, dass das ukrainische Bruttosozialprodukt bis zum Ende des Jahres 2014 um 5-10% schrumpfen wird, was die Wirtschaft in die Rezession zurückwerfen wird. Die gute Nachricht ist jedoch, dass Ende Mai das Schuldenübernahmeabkommen mit dem IWF, das ein Volumen von 17 Milliarden Dollar hat, geschlossen wurde. Und das heißt, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Ukraine dieses Jahr und 2015 mit der Bedienung ihrer Verpflichtungen aus der Auslandsverschuldung in Verzug geraten wird. Trotzdem wird eine weitreichende und systematische Wirtschaftsreform, die unter Poroschenko angegangen werden muss, wenn die Dinge sich nicht wiederholen sollen, sehr schmerzhaft sein, da sie mit dem Verlust von Zuschüssen für die Schwerindustrie einhergehen muss. Das beinhaltet auch die Liberalisierung der Energiepreise für heimische Konsumenten, was politisch und sozial sehr umstritten sein wird. Die Transformation der Wirtschaft sollte nicht unterschätzt werden. Die Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen, auch wenn es zu einem Zeitpunkt fast daran war. Ich war im März in Kiew, zu einem Zeitpunkt als keine Geldautomaten arbeiteten, die Banken geschlossen waren und es unmöglich war irgendeine westliche Währung in die ukrainische Währung Hrywnja umzutauschen. Die Menschen waren sehr besorgt. Die Regierung schaffte es zwar einen Wirtschaftszusammenbruch zu vermeiden, aber die wirtschaftlichen Herausforderungen, die bei grundlegenden Reformen beginnen und bis zur Rückzahlung der IWF-Kredite reichen, werden extrem hart sein.

In der letzten Zeit hat die EU Russland mit wirtschaftlichen Sanktionen gedroht, aber trotzdem hat Frankreich Waffengeschäfte fortgesetzt und Kanzlerin Merkel kündigte an, dass sie keine Sanktionen gegenüber Russland unterstützen wird. Wie würden Sie diesen Widerspruch zwischen offizieller Rhetorik und der tatsächlichen Handlungsweise erklären?

Das ist ganz einfach. Es geht darum, dass die potentiellen Verluste für die westlichen Länder zu hoch wären. Es gibt nichts, was der Westen tun könnte, um die Krim wieder der ukrainischen Gerichtsbarkeit zu überstellen. Diesbezüglich sollten sie ehrlich sein. Es gibt meiner Meinung nach keine Chance für die Ukraine die Krim wiederzubekommen. In Deutschland gibt es bedeutenden Widerstand hinsichtlich weiterer Sanktionen gegen Russland. Der Grund sind die industriellen Beziehungen und deren Bedeutung für beide Seiten. In Frankreich gibt es keinen nennenswerten Widerstand gegen eine, wenn man so will, Torpedierung der politischen Beziehung, um eines Streits zwischen Russland und der Ukraine willen. In London gibt es massiven Widerstand gegenüber weiteren Sanktionen, weil das russische Geld für die Finanzinstitutionen des Bankensystems im Vereinigten Königreich so wichtig ist. Die treibende Kraft hinter den Sanktionen sind also letztendlich die Vereinigten Staaten und nicht die EU. Die EU hat zwar nicht stillgehalten als Russland die Krim annektierte, was eine Verletzung von internationalem Recht darstellt, trotzdem war die treibende Kraft hinter mutmaßlichen Maßnahmen gegen Russland nicht die EU, sondern Washington.

Sie sagten die Annexion der Krim würde internationales Recht brechen. Kann sie nicht mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 verglichen werden?

Das ist eine sehr interessante Frage und wenn wir vergleichen wie Länder ihre Souveränität erhalten oder wie Referenden in der Öffentlichkeit durchgeführt werden, gibt es viele Parallelen. Aus russischer Perspektive gibt es eine moralische Ambivalenz: Kosovo wollte die Unabhängigkeit und der Westen handelte, um sicherzustellen, dass sie sie auch bekommen. Die Krimbewohner waren zum Zeitpunkt der russischen Annexion nicht ethnisch gesäubert, in Massen ermordet und nicht von ukrainischen Behörden aus ihrer Heimat vertrieben. Die Russen haben einen historischen Moment genutzt, um eine Situation zu korrigieren, die sie als grundlegend falsch einschätzen und die ihre Wurzeln in den frühen 1950er Jahren hat, als die Krim von Nikita Chruschtschow als Geschenk an die Ukrainer für ihre Rolle in 300 Jahren Russisch-Ukrainischer Kooperation übergeben wurde. Das war eine willkürliche Entscheidung gewesen und führte zu der Situation, dass die Krim ablehnte von Kiew regiert zu werden und sich gleichzeitig immer überwiegend zu Russland gehörend fühlte. Trotzdem hat Russland die Krim innerhalb der ukrainischen Grenzen anerkannt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1994 unterzeichneten Russland und die westlichen Staaten einen Vertrag, in dem sie die bestehenden Grenzen der Ukraine anerkannten, wenn diese im Gegenzug ihre Atomwaffen abgibt. Und dann hat Russland diesen Vertrag verletzt. Ich denke, auch wenn es sehr einfach ist historische Parallelen zu ziehen und sich gegenseitig der Heuchelei und des Messens mit zweierlei Maß zu beschuldigen, ist das alles nicht sehr hilfreich.

Die negativen Auswirkungen dieses Konflikts können wir in den Nachrichten verfolgen. Aber wie könnte ein Fortgang des Konflikt die EU-Wirtschaften beeinflussen?

Was in der Ukraine passiert, ist aus sicherheitspolitischen Erwägungen wichtig. Die EU möchte nicht mit tausenden Flüchtlingen konfrontiert werden, die aus der Ukraine nach Mitteleuropa fliehen. Der einzige Weg, wie die Ereignisse in der Ukraine die EU-Wirtschaften betreffen könnten, wäre, wenn Sanktionen gegen Russland verhängt würden, denn eine weitere Sanktionsrunde, die beispielsweise bei einer russischen Invasion in der Ostukraine in Gang kommen würde, würde sich auf viel wichtigere Bereiche konzentrieren – das Bankensystem, die Finanzwirtschaft und die Energiesektoren. Das würde die Eurozone zweifellos zurück in die Rezession stürzen. Angesichts dessen, was der Eurozone in den letzten fünf Jahren widerfahren ist, möchten die europäischen Staatsoberhäupter nicht um der Ostukraine willen, wieder wirtschaftlich in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Russen haben von einer Invasion Abstand genommen, weil sie davon ausgehen, dass Sanktionen folgen werden. Die EU hat ihre Rhetorik heruntergefahren und der neu gewählte Präsident der Ukraine Petro Poroschenko hat gegenüber der Ostukraine und Russland angedeutet, dass er Willens ist an einem Verhandlungsprozess teilzunehmen, der die Situation normalisieren soll.

Kann also in den nächsten Wochen von einer Befriedung und Stabilisierung ausgegangen werden?

Um ehrlich zu sein: nicht innerhalb von Wochen. Ich denke wir sprechen über eine Zeit von 3 bis 6 Monaten bis die Ostukraine wieder unter Kontrolle ist. 6 -12 Monate bis Poroschenko seine Weisungsbefugnis etabliert hat. Dann werden im Dezember Parlamentswahlen stattfinden. Wir werden sehen, wie die Zusammensetzung des neu gewählten Parlaments – der Werchowna Rada – aussieht. Wenn es nationalistisch ist, wären die Russen nicht glücklich darüber und es würde weitere Belastungen der diplomatischen Beziehungen geben. Die nächsten zwei bis drei Jahre werden für die Ukraine recht schwer bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Felix Weiß

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